Koreanische Schrifttafeln.
Reflexionen über die Änderung der Welt
Walter Kuhl
Koreanische Schrifttafeln.
Koreanische Schrifttafeln aus Metall.
Denkzeichen Güterbahnhof in Darmstadt.
Denkzeichen Güterbahnhof.
Gedenktafel an die Orthodoxe Synagoge in Darmstadt.
Gedenktafel Orthodoxe Synagoge.
Goetheschule in Darmstadt.
Goetheschule in Darmstadt.
Mosaik an der Johanneskirche in Darmstadt.
Mosaik an der Johanneskirche.

Darmstadt 1904, 1942, 2013

Stolpersteine in der Landwehrstraße

Gunter Demnig verlegt seit 1997 Stolpersteine zum Gedenken an alle verfolgten, ermordeten Opfer des National­sozialismus. Am 5. April 2006 traf ich in Darmstadt auf den Künstler vor dem Haus Landwehr­straße 18, dem Haus, in dem ich sechzehn Jahre gewohnt habe, bevor die neuen Hausbesitzer selbiges zu einem veritablen Schlößchen für sich und ihre Familie ausbauten. Fortan wurde ich täglich an die Namen von Benny und Thekla Bär erinnert. Sieben Jahre später fand ich den Namen Bär an einer ganz anderen, unerwarteten Stelle vor.


Für meine Webseite über die Darmstädter Eisenbahn-, Straßenbahn- und Industrie­geschichte bis zum Ersten Weltkrieg [link] suche ich im Internet immer wieder nach passenden Aufnahmen, die von mir beschriebene oder dokumentierte Orte und Zusammen­hänge illustrieren sollen. In Ermangelung von Fotografien aus der Zeit um 1900 bin ich auf zeit­genössische Ansichts­karten angewiesen. Damalige Fotografen bemühten sich, die eher schläfrige Beamten­residenz als einen Ort des Fortschritts darzustellen. Die 1846 eröffnete Main-Neckar-Bahn erschloß Darmstadt der aufkommenden Industriali­sierung, die ab 1886 zunächst mit Dampf betriebene Straßen­bahn fand hingegen ob der rußenden Umstände nicht so ganz den Geschmack des der Moderne zustrebenden Publikums. Ganz anders die seit 1897 fahrende städtische elektrische Straßen­bahn. Sie wurde auf unzähligen Ansichts­karten abgebildet, denn so eine Straßen­bahn galt nicht nur als chic, sie war geradezu ein Status­symbol für das bürgerliche Leben, bevor das Automobil den Straßen­raum für sich beanspruchte. Mit der Straßen­bahn wurden in der süd­hessischen Provinz nicht etwa die Arbeiter­massen befördert, sondern die gehobenen Stände zu ihren Ausflugs­zielen in der Fasanerie, am Böllen­falltor und an die Ludwigs­höhe. Um zur Fasanerie zu gelangen, befuhr die Straßen­bahn die Alexander­straße. Die ersten Häuser auf beiden Straßen­seiten wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Heute steht hier links der Betonklotz der Universitäts­verwaltung, während rechts die extravagante schiefe Schachtel des Darmstadtiums hingepflanzt wurde.

Alexanderstraße um 1900.

Abbildung 1: Ansichts­kartenmotiv der Alexander­straße um 1900. Die umlaufende persönliche Mitteilung ist hier wegge­lassen. Zu der Inszenierung derartiger Bilder gehörte damals die Staffage durch – wahlweise – Schülerinnen, Radfahrer oder gutsituiert daherblickende männliche Autoritäts­personen; die meist anhand vorhandener Schablonen hinein­montiert wurden.

Als ich dieses Motiv auf der Webseite eines Berliner Händlers entdeckte, schaute ich genauer hin. Auf der bei ihm ebenfalls abgebildeten Rückseite war als Adressat der Ansichts­karte eine Familie Bär in Nürnberg angegeben. Am Seitenrand war dann zu lesen: „Bär Darmstadt Landwehr­straße“. Versandt wurde die Postkarte am 15. Februar 1904.

Hausfassade in der Landwehrstraße.
Bild 2: Die Fassade der Häuser Nummer 14 (gelblich, links), 16 und 18. Auch das rechte Haus besaß ursprünglich einen Dachschmuck, wie er links bei Nummer 14 zu sehen ist. (Wurde nach 2016 ergänzt.)

Wie und auf welchen Umwegen mag diese Ansichtskarte zu besagtem Berliner Händler (und nun erst einmal, vorläufig, in meinen Besitz) gelangt sein? Bedenkend, daß die National­sozialisten bei ihrer Enteignungs- und Deportations­politik den jüdischen Verfolgten und Drang­salierten kaum die Gelegen­heit gegeben haben werden, ihre persönlichen Gegen­stände mit in den Tod zu nehmen, liegt die Vermutung nahe, es handelt sich bei dieser unscheinbaren Ansichts­karte um Raubgut. Ganz auszu­schließen ist jedoch nicht, daß es der als Adressat genannten Familie Bär in Nürnberg oder zumindest einigen von ihnen gelungen ist, rechtzeitig ins Ausland zu emigrieren – und hierbei die Ansichts­karte mitzunehmen. Dagegen spricht, daß die Karte auf den deutschen Sammler­markt geworfen wurde.

Das etwa 1901/02 erbaute Haus Landwehrstraße 18 wird erstmals 1903 im Darmstädter Adreßbuch aufgeführt. Ein Fecht­meister namens August Riehl wird dort als Haus­eigentümer gelistet, der zudem auch die Häuser Nummer 14 und 16 besitzt. Diese drei Häuser bilden ein Ensemble und waren in wechselnder Konfiguration in einer, zwei oder drei verschiedenen Händen. Seit wenigen Jahren sind alle drei wieder vereint das Eigentum einer Darmstädter Gewerbe­treibenden, die über genügend Geld verfügt, ganze Stockwerke quer durch die Häuser für sich und ihre Familie zu nutzen. Wir sind uns sicher darüber einig, daß Wohnungs­größen von 240 oder gar 360 Quadratmetern einen angemessener Standard für betuchte Bürgerinnen und Bürger darstellen. Bisherige Mieterinnen und Mieter waren hierbei im Wege und wurden gekündigt und/oder herausgeklagt. (Um mögliche Mißver­ständnisse von vornherein auszu­räumen: die Unbilden des heutigen kapitalistische Wohnungs­markts sind nichts im Vergleich zu den Motiven und Methoden der Vertreibung und Enteignung der Bewohnerinnen und Bewohner derselben Wohnungen vor rund siebzig Jahren.)

Adreßbucheintrag.
Abbildung 3: Eintrag im Adreßbuch für 1912.

Der 1857 in Neckar­bischofsheim geborene Benny Bär wird als Betreiber eines Agentur­geschäfts 1904 mit Anschrift Landwehr­straße 18 erwähnt. Im Jahr zuvor wird er noch als Betreiber einer Wein­handlung und eines Agentur­geschäfts in der Rheinstraße 47 benannt. Im März 1903 zog das Ehepaar Bär in die Landwehr­straße. Es gehörte der orthodoxen jüdischen Gemeinde an. Vermutlich 1906 wird Benny Bär recht früh einen eigenen Telefon­anschluß mit der Rufnummer 1145 erhalten haben. Als Vertreter der Gerresheimer Glashütten-Werke wird er ihn auch benötigt haben. In einem späteren Dokument wird er auch als Immobilien­makler bezeichnet. Seine Geschäfte liefen wohl so gut, daß er für sich und seine Ehefrau Thekla ausreichende Rücklagen als Alters­versorgung anlegen konnte. Die Nazis sollten diese Altersruhe empfindlich stören.

Von 1904 bis 1911 nennt ihn das Adreßbuch zudem als Eigentümer des schräg gegenüber liegenden Hauses Landwehr­straße 13.

Das Haus Nummer 18 verfügt über eine kleinere Wohnung im Hoch­parterre und drei größere, etwa 120 Quadrat­meter fassende Wohnungen in den Stockwerken darüber. Ob die Mansarde jemals ausgebaut war, um eventuell Dienst­personal unterzubringen, habe ich nicht herausfinden können. Das Adreßbuch gibt hierüber keine Auskunft, und somit ist diese Möglich­keit wohl zu verneinen. In typischer Aspekt dieses Wohnhauses ist ein Dienstboten­fenster, durch das Milch oder andere Güter aus dem Treppenhaus in die Küche durchgereicht werden konnten, ohne die Wohnungs­türe öffnen zu müssen. Die drei größeren Wohnungen verfügten ursprünglich über fünf Zimmer, wovon das Wohn- und Empfangs­zimmer großzügig mit drei hohen zweiflügeligen Türen ausgestattet wurde. Inwieweit Küche, Bad und Toiletten ursprünglich zusammen­gelegt oder abgetrennt gewesen sind, ist nicht mehr heraus­zufinden. Die beiden hinteren Zimmer wie auch die Küche bieten einen fast unverstellten Ausblick auf einen mehrere tausend Quadratmeter umfassenden Innen­bereich, auch wenn sich die Lade­vorgänge eines Sanitär­großhandels in der Bismarck­straße zuweilen lautstark bemerkbar machen. Die Vorderfront zur Landwehr­straße bietet einen ebenso fast unverstellten Ausblick, weil hier die Viktoria­straße in die Landwehr­straße einmündet und somit den freien Blick nach Norden ermöglicht. Die Bärs besaßen somit eine innenstadt­nahe, geräumige und behagliche Wohnung. Erst mit zunehmendem Alter dürfte der Treppen­aufstieg beschwerlich geworden sein.

Ausblick auf die Viktoriastraße.
Bild 4: Blick aus dem Wohn- und Empfangs­zimmer auf die Viktoria­straße.

Woher weiß ich das so genau? Nun, ich habe sechzehn Jahre lang dort gewohnt, und zwar – sehr wahr­scheinlich – in der Wohnung, die Benny und Thekla Bär rund dreieinhalb Jahrzehnte als Zuhause gedient hat. Das Darmstädter Adreß­buch erwähnt in seiner Ausgabe von 1910 erstmals, in welchem Stockwerk Eigentümer oder Mieterinnen gewohnt haben. Hier wird Benny Baer, wenn ich das richtig lese, als in „M“ wohnend angegeben, demnach der Mansarde bzw. im Dach­geschoß; 1911 ist es dann der 3. Stock. Das „Stolpersteine“-Buch von Dorothee Hoppe und Jutta Reuss läßt das Ehepaar im zweiten Stock wohnen, was meines Erachtens unzutreffend ist. Tatsäch­lich weisen die Adreßbücher von 1927 bis 1933 den zweiten Stock aus, doch gleich­zeitig werden im selben Stockwerk auch der Fabrikant Adolf Beck und zudem die Konserven­fabrik Georg Korbus aufgeführt. Es ist nicht anzunehmen, daß sich alle in einer Wohnung aufhielten, zumal das dritte Stockwerk in diesen Ausgaben des Adreßbuchs keine Erwähnung findet. Vermutlich wird es sich um einen Erfassungs- oder Schreib­fehler handeln, der dann mehrere Jahre durch mehrere Ausgaben mit­geschleppt wurde. Ohnehin wurden die Adreß­bücher der 1920er Jahre nicht mehr automatisch durch das Einwohner­meldeamt mit zuverlässigen Auskünften beliefert; die benötigten Daten mußten somit selbst über Fragebögen besorgt werden, deren Einträge oftmals unleserlich waren. In der Wohnung lebte neben der Ehefrau Thekla Bär, 1862 in Meisenheim als Thekla Fränkel geboren, eine Zeitlang (etwa 1910 bis 1916) auch die Witwe von Simon Fränkel, des Teilhabers der vormaligen Wein­handlung.

Wann Benny und Thekla Bär ihre Wohnung zwangs­weise aufgeben mußten und in das „Judenhaus“ in der Georgen­straße 10 (heute: Gagernstraße) abgeschoben wurden, scheint sich nicht mehr rekonstruieren zu lassen; es wird wohl zwischen April und Oktober 1939 gewesen sein. Am 27. September 1942 wurden sie im Sammellager in der Justus-Liebig-Schule vermutlich ihrer letzten Habselig­keiten beraubt und anschließend nach Theresien­stadt verfrachtet. Von insgesamt 1287 Deportierten dieses Transports überlebten 89. Benny Bär starb dort (wurde ermordet) am 10. Oktober, Thekla Bär am 24. November 1942.

Die beiden Stolpersteine.

Bild 5: Die beiden an Benny und Thekla Bär erinnernden Stolper­steine in der Landwehr­straße.

Am Nachmittag des 5. April 2006 kam ich von der Arbeit nach Hause und erblickte eine kleine Menschen­traube, die dem Aktions­künstler Gunter Demnig bei seiner Beschäfti­gung zusah, den Asphalt aufzu­stemmen, um dort zwei Stolpersteine mit ihrer Messing­oberfläche zu verlegen. Leider waren die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses nicht informiert worden, so daß es eher ein Zufall war, daß ich bei der Verlegung der Steine zugegen war. Patinnen und Paten dieser Einbettung war Schülerinnen und Schüler der damaligen Klasse 10 b der Justus-Liebig-Schule, also der Schule, in der von eifrigen Darmstädtern im National­sozialismus Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma zusammen­getrieben worden waren, um sie in Konzentrations­lager abzutrans­portieren. So entstanden die beiden folgenden Bilder.

Verlegung der beiden Stolpersteine.

Bild 6: Gunter Demnig hat soeben die frisch verlegten Steine gesäubert.

Verlegung der beiden Stolpersteine.

Bild 7: Die Patinnen und Paten schauen zu. Erinnern sie sich heute noch daran, und wie?

Die Verlegung derartiger Stolpersteine ist nicht unumstritten. Charlotte Knobloch beispiels­weise, die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutsch­land, verurteilt die Aktion: „Damit wird das Andenken von Menschen, die Verfolgung und Entwürdi­gung erleben mussten, bevor sie auf schreckliche Weise ermordet wurden, nochmals entwürdigt und sprich­wörtlich mit Füßen getreten.“ Der Gedanke und die damit verbundene Kritik ist nachvoll­ziehbar. Gäbe es auch andere, sinnvollere Formen des Gedenkens?

Pfarrer Walter Ullrich sprach über Erinnerungs­kultur am 5. April 2004 in der Sendung „Gegen das Vergessen“ bei Radio Darmstadt:

„Es kommt also darauf an, die persönliche Familien­geschichte in Beziehung zu setzen zu dem, was man als archivalisches Wissen angehäuft hat. Schüler dürfen nicht dabei belassen werden, daß sie dann bei einem Test gut abschneiden, indem sie ihr archivalisches Wissen ausbreiten, sondern es geht darum, daß sie begreifen, daß ihre Familie, daß ihre Vorfahren in diese Geschehen involviert waren und daß sie dann selbst eben auch die Aufgabe haben, verant­wortlich damit umzugehen und darauf hinzuwirken, daß in heutiger Zeit aus der Kraft der Erinnerung eine immer wieder stabile demokratische Struktur erwächst.“

Helfen Stolpersteine dabei? Ich weiß es nicht.

Doch selbst dann, wenn sie von den üblichen unachtsamen Zeitgenossen mit Füßen getreten werden, und das geschieht in der Darmstädter Landwehr­straße Tag für Tag, zum Beispiel wenn Schülerinnen und Schüler in Gedanken versunken oder miteinander schwatzend von der Schulinsel zur Straßen­bahn eilen, so finden gerade diese beiden Stolper­steine auch immer wieder die Aufmerk­samkeit derjenigen, die nicht mit dem Tunnelblick der vorbei­hastenden Männer und Frauen behaftet sind. Sie schauen nach und stellen fest, daß hinter der Fassade der Wohlan­ständigkeit die Gemeinheit der Spieß­bürgerin und das Verbrechen deutscher Täter eher christlichen Glaubens lauert.

Ein weiterer Stolperstein erinnert vor dem Haus Landwehr­straße 7a an Hilde Betty Thalheimer, die 1942 in Auschwitz von Nazischergen ermordet wurde.

Die Ansichtskarte übereigne ich der Jüdischen Gemeinde Darmstadt. Dort ist sie gut aufgehoben.