Stolpersteine in der Landwehrstraße
Gunter Demnig verlegt seit 1997 Stolpersteine zum Gedenken an alle verfolgten, ermordeten Opfer des Nationalsozialismus. Am 5. April 2006 traf ich in Darmstadt auf den Künstler vor dem Haus Landwehrstraße 18, dem Haus, in dem ich sechzehn Jahre gewohnt habe, bevor die neuen Hausbesitzer selbiges zu einem veritablen Schlößchen für sich und ihre Familie ausbauten. Fortan wurde ich täglich an die Namen von Benny und Thekla Bär erinnert. Sieben Jahre später fand ich den Namen Bär an einer ganz anderen, unerwarteten Stelle vor.
Für meine Webseite über die Darmstädter Eisenbahn-, Straßenbahn- und Industriegeschichte bis zum Ersten Weltkrieg [link] suche ich im Internet immer wieder nach passenden Aufnahmen, die von mir beschriebene oder dokumentierte Orte und Zusammenhänge illustrieren sollen. In Ermangelung von Fotografien aus der Zeit um 1900 bin ich auf zeitgenössische Ansichtskarten angewiesen. Damalige Fotografen bemühten sich, die eher schläfrige Beamtenresidenz als einen Ort des Fortschritts darzustellen. Die 1846 eröffnete Main-Neckar-Bahn erschloß Darmstadt der aufkommenden Industrialisierung, die ab 1886 zunächst mit Dampf betriebene Straßenbahn fand hingegen ob der rußenden Umstände nicht so ganz den Geschmack des der Moderne zustrebenden Publikums. Ganz anders die seit 1897 fahrende städtische elektrische Straßenbahn. Sie wurde auf unzähligen Ansichtskarten abgebildet, denn so eine Straßenbahn galt nicht nur als chic, sie war geradezu ein Statussymbol für das bürgerliche Leben, bevor das Automobil den Straßenraum für sich beanspruchte. Mit der Straßenbahn wurden in der südhessischen Provinz nicht etwa die Arbeitermassen befördert, sondern die gehobenen Stände zu ihren Ausflugszielen in der Fasanerie, am Böllenfalltor und an die Ludwigshöhe. Um zur Fasanerie zu gelangen, befuhr die Straßenbahn die Alexanderstraße. Die ersten Häuser auf beiden Straßenseiten wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Heute steht hier links der Betonklotz der Universitätsverwaltung, während rechts die extravagante schiefe Schachtel des Darmstadtiums hingepflanzt wurde.
Abbildung 1: Ansichtskartenmotiv der Alexanderstraße um 1900. Die umlaufende persönliche Mitteilung ist hier weggelassen. Zu der Inszenierung derartiger Bilder gehörte damals die Staffage durch – wahlweise – Schülerinnen, Radfahrer oder gutsituiert daherblickende männliche Autoritätspersonen; die meist anhand vorhandener Schablonen hineinmontiert wurden.
Als ich dieses Motiv auf der Webseite eines Berliner Händlers entdeckte, schaute ich genauer hin. Auf der bei ihm ebenfalls abgebildeten Rückseite war als Adressat der Ansichtskarte eine Familie Bär in Nürnberg angegeben. Am Seitenrand war dann zu lesen: „Bär Darmstadt Landwehrstraße“. Versandt wurde die Postkarte am 15. Februar 1904.
Bild 2: Die Fassade der Häuser Nummer 14 (gelblich, links), 16 und 18. Auch das rechte Haus besaß ursprünglich einen Dachschmuck, wie er links bei Nummer 14 zu sehen ist. (Wurde nach 2016 ergänzt.)
Wie und auf welchen Umwegen mag diese Ansichtskarte zu besagtem Berliner Händler (und nun erst einmal, vorläufig, in meinen Besitz) gelangt sein? Bedenkend, daß die Nationalsozialisten bei ihrer Enteignungs- und Deportationspolitik den jüdischen Verfolgten und Drangsalierten kaum die Gelegenheit gegeben haben werden, ihre persönlichen Gegenstände mit in den Tod zu nehmen, liegt die Vermutung nahe, es handelt sich bei dieser unscheinbaren Ansichtskarte um Raubgut. Ganz auszuschließen ist jedoch nicht, daß es der als Adressat genannten Familie Bär in Nürnberg oder zumindest einigen von ihnen gelungen ist, rechtzeitig ins Ausland zu emigrieren – und hierbei die Ansichtskarte mitzunehmen. Dagegen spricht, daß die Karte auf den deutschen Sammlermarkt geworfen wurde.
Das etwa 1901/02 erbaute Haus Landwehrstraße 18 wird erstmals 1903 im Darmstädter Adreßbuch aufgeführt. Ein Fechtmeister namens August Riehl wird dort als Hauseigentümer gelistet, der zudem auch die Häuser Nummer 14 und 16 besitzt. Diese drei Häuser bilden ein Ensemble und waren in wechselnder Konfiguration in einer, zwei oder drei verschiedenen Händen. Seit wenigen Jahren sind alle drei wieder vereint das Eigentum einer Darmstädter Gewerbetreibenden, die über genügend Geld verfügt, ganze Stockwerke quer durch die Häuser für sich und ihre Familie zu nutzen. Wir sind uns sicher darüber einig, daß Wohnungsgrößen von 240 oder gar 360 Quadratmetern einen angemessener Standard für betuchte Bürgerinnen und Bürger darstellen. Bisherige Mieterinnen und Mieter waren hierbei im Wege und wurden gekündigt und/oder herausgeklagt. (Um mögliche Mißverständnisse von vornherein auszuräumen: die Unbilden des heutigen kapitalistische Wohnungsmarkts sind nichts im Vergleich zu den Motiven und Methoden der Vertreibung und Enteignung der Bewohnerinnen und Bewohner derselben Wohnungen vor rund siebzig Jahren.)
Abbildung 3: Eintrag im Adreßbuch für 1912.
Der 1857 in Neckarbischofsheim geborene Benny Bär wird als Betreiber eines Agenturgeschäfts 1904 mit Anschrift Landwehrstraße 18 erwähnt. Im Jahr zuvor wird er noch als Betreiber einer Weinhandlung und eines Agenturgeschäfts in der Rheinstraße 47 benannt. Im März 1903 zog das Ehepaar Bär in die Landwehrstraße. Es gehörte der orthodoxen jüdischen Gemeinde an. Vermutlich 1906 wird Benny Bär recht früh einen eigenen Telefonanschluß mit der Rufnummer 1145 erhalten haben. Als Vertreter der Gerresheimer Glashütten-Werke wird er ihn auch benötigt haben. In einem späteren Dokument wird er auch als Immobilienmakler bezeichnet. Seine Geschäfte liefen wohl so gut, daß er für sich und seine Ehefrau Thekla ausreichende Rücklagen als Altersversorgung anlegen konnte. Die Nazis sollten diese Altersruhe empfindlich stören.
Von 1904 bis 1911 nennt ihn das Adreßbuch zudem als Eigentümer des schräg gegenüber liegenden Hauses Landwehrstraße 13.
Das Haus Nummer 18 verfügt über eine kleinere Wohnung im Hochparterre und drei größere, etwa 120 Quadratmeter fassende Wohnungen in den Stockwerken darüber. Ob die Mansarde jemals ausgebaut war, um eventuell Dienstpersonal unterzubringen, habe ich nicht herausfinden können. Das Adreßbuch gibt hierüber keine Auskunft, und somit ist diese Möglichkeit wohl zu verneinen. In typischer Aspekt dieses Wohnhauses ist ein Dienstbotenfenster, durch das Milch oder andere Güter aus dem Treppenhaus in die Küche durchgereicht werden konnten, ohne die Wohnungstüre öffnen zu müssen. Die drei größeren Wohnungen verfügten ursprünglich über fünf Zimmer, wovon das Wohn- und Empfangszimmer großzügig mit drei hohen zweiflügeligen Türen ausgestattet wurde. Inwieweit Küche, Bad und Toiletten ursprünglich zusammengelegt oder abgetrennt gewesen sind, ist nicht mehr herauszufinden. Die beiden hinteren Zimmer wie auch die Küche bieten einen fast unverstellten Ausblick auf einen mehrere tausend Quadratmeter umfassenden Innenbereich, auch wenn sich die Ladevorgänge eines Sanitärgroßhandels in der Bismarckstraße zuweilen lautstark bemerkbar machen. Die Vorderfront zur Landwehrstraße bietet einen ebenso fast unverstellten Ausblick, weil hier die Viktoriastraße in die Landwehrstraße einmündet und somit den freien Blick nach Norden ermöglicht. Die Bärs besaßen somit eine innenstadtnahe, geräumige und behagliche Wohnung. Erst mit zunehmendem Alter dürfte der Treppenaufstieg beschwerlich geworden sein.
Bild 4: Blick aus dem Wohn- und Empfangszimmer auf die Viktoriastraße.
Woher weiß ich das so genau? Nun, ich habe sechzehn Jahre lang dort gewohnt, und zwar – sehr wahrscheinlich – in der Wohnung, die Benny und Thekla Bär rund dreieinhalb Jahrzehnte als Zuhause gedient hat. Das Darmstädter Adreßbuch erwähnt in seiner Ausgabe von 1910 erstmals, in welchem Stockwerk Eigentümer oder Mieterinnen gewohnt haben. Hier wird Benny Baer, wenn ich das richtig lese, als in „M“ wohnend angegeben, demnach der Mansarde bzw. im Dachgeschoß; 1911 ist es dann der 3. Stock. Das „Stolpersteine“-Buch von Dorothee Hoppe und Jutta Reuss läßt das Ehepaar im zweiten Stock wohnen, was meines Erachtens unzutreffend ist. Tatsächlich weisen die Adreßbücher von 1927 bis 1933 den zweiten Stock aus, doch gleichzeitig werden im selben Stockwerk auch der Fabrikant Adolf Beck und zudem die Konservenfabrik Georg Korbus aufgeführt. Es ist nicht anzunehmen, daß sich alle in einer Wohnung aufhielten, zumal das dritte Stockwerk in diesen Ausgaben des Adreßbuchs keine Erwähnung findet. Vermutlich wird es sich um einen Erfassungs- oder Schreibfehler handeln, der dann mehrere Jahre durch mehrere Ausgaben mitgeschleppt wurde. Ohnehin wurden die Adreßbücher der 1920er Jahre nicht mehr automatisch durch das Einwohnermeldeamt mit zuverlässigen Auskünften beliefert; die benötigten Daten mußten somit selbst über Fragebögen besorgt werden, deren Einträge oftmals unleserlich waren. In der Wohnung lebte neben der Ehefrau Thekla Bär, 1862 in Meisenheim als Thekla Fränkel geboren, eine Zeitlang (etwa 1910 bis 1916) auch die Witwe von Simon Fränkel, des Teilhabers der vormaligen Weinhandlung.
Wann Benny und Thekla Bär ihre Wohnung zwangsweise aufgeben mußten und in das „Judenhaus“ in der Georgenstraße 10 (heute: Gagernstraße) abgeschoben wurden, scheint sich nicht mehr rekonstruieren zu lassen; es wird wohl zwischen April und Oktober 1939 gewesen sein. Am 27. September 1942 wurden sie im Sammellager in der Justus-Liebig-Schule vermutlich ihrer letzten Habseligkeiten beraubt und anschließend nach Theresienstadt verfrachtet. Von insgesamt 1287 Deportierten dieses Transports überlebten 89. Benny Bär starb dort (wurde ermordet) am 10. Oktober, Thekla Bär am 24. November 1942.
Bild 5: Die beiden an Benny und Thekla Bär erinnernden Stolpersteine in der Landwehrstraße.
Am Nachmittag des 5. April 2006 kam ich von der Arbeit nach Hause und erblickte eine kleine Menschentraube, die dem Aktionskünstler Gunter Demnig bei seiner Beschäftigung zusah, den Asphalt aufzustemmen, um dort zwei Stolpersteine mit ihrer Messingoberfläche zu verlegen. Leider waren die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses nicht informiert worden, so daß es eher ein Zufall war, daß ich bei der Verlegung der Steine zugegen war. Patinnen und Paten dieser Einbettung war Schülerinnen und Schüler der damaligen Klasse 10 b der Justus-Liebig-Schule, also der Schule, in der von eifrigen Darmstädtern im Nationalsozialismus Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma zusammengetrieben worden waren, um sie in Konzentrationslager abzutransportieren. So entstanden die beiden folgenden Bilder.
Bild 6: Gunter Demnig hat soeben die frisch verlegten Steine gesäubert.
Bild 7: Die Patinnen und Paten schauen zu. Erinnern sie sich heute noch daran, und wie?
Die Verlegung derartiger Stolpersteine ist nicht unumstritten. Charlotte Knobloch beispielsweise, die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, verurteilt die Aktion: „Damit wird das Andenken von Menschen, die Verfolgung und Entwürdigung erleben mussten, bevor sie auf schreckliche Weise ermordet wurden, nochmals entwürdigt und sprichwörtlich mit Füßen getreten.“ Der Gedanke und die damit verbundene Kritik ist nachvollziehbar. Gäbe es auch andere, sinnvollere Formen des Gedenkens?
Pfarrer Walter Ullrich sprach über Erinnerungskultur am 5. April 2004 in der Sendung „Gegen das Vergessen“ bei Radio Darmstadt:
„Es kommt also darauf an, die persönliche Familiengeschichte in Beziehung zu setzen zu dem, was man als archivalisches Wissen angehäuft hat. Schüler dürfen nicht dabei belassen werden, daß sie dann bei einem Test gut abschneiden, indem sie ihr archivalisches Wissen ausbreiten, sondern es geht darum, daß sie begreifen, daß ihre Familie, daß ihre Vorfahren in diese Geschehen involviert waren und daß sie dann selbst eben auch die Aufgabe haben, verantwortlich damit umzugehen und darauf hinzuwirken, daß in heutiger Zeit aus der Kraft der Erinnerung eine immer wieder stabile demokratische Struktur erwächst.“
Helfen Stolpersteine dabei? Ich weiß es nicht.
Doch selbst dann, wenn sie von den üblichen unachtsamen Zeitgenossen mit Füßen getreten werden, und das geschieht in der Darmstädter Landwehrstraße Tag für Tag, zum Beispiel wenn Schülerinnen und Schüler in Gedanken versunken oder miteinander schwatzend von der Schulinsel zur Straßenbahn eilen, so finden gerade diese beiden Stolpersteine auch immer wieder die Aufmerksamkeit derjenigen, die nicht mit dem Tunnelblick der vorbeihastenden Männer und Frauen behaftet sind. Sie schauen nach und stellen fest, daß hinter der Fassade der Wohlanständigkeit die Gemeinheit der Spießbürgerin und das Verbrechen deutscher Täter eher christlichen Glaubens lauert.
Ein weiterer Stolperstein erinnert vor dem Haus Landwehrstraße 7a an Hilde Betty Thalheimer, die 1942 in Auschwitz von Nazischergen ermordet wurde.
Die Ansichtskarte übereigne ich der Jüdischen Gemeinde Darmstadt. Dort ist sie gut aufgehoben.